REZENSION | Schlüsselwerke des Konstruktivismus

Der Titel „Schlüsselwerke des Konstruktivismus“ lässt einiges für den/die Leser/-in erhoffen, birgt aber auch vielleicht die Gefahr in sich, dass das Schloss bzw. die Schlösser für den/die Schlüssel fehlen könnten …

Schlüssel-Erfahrungen machen, Schlüssiges verstehen und verinnerlichen, das Thema öffnen sowie Gedanken- und Erfahrungsräume durchschreiten. Dazu könnte dieses Buch beitragen, wenn es darum geht, den Konstruktivismus in den verschiedensten Facetten zu ent-schlüsseln.

Eine der Schlüsselaussagen des konstruktivistischen Diskurses von Humberto R. Maturana „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“, klingt zwar auf den ersten Blick sehr plausibel und „eh-klar“, jedoch hat dies auf die Beratungspraxis bei konsequenter Haltung und Umsetzung eine weitreichende Wirkung bezüglich der Methodik, der Interaktionen usw.

Daher benötigt der/die Leser/-in m.E. so etwas Vorerfahrungen zu diesem Themenfeld in Form von Grundlagen systemischer bzw. konstruktivistischer Theorien, Methoden und Praxis, um Anschlussfähigkeit für die Inhalte herzustellen. Dann kann das Buch auch wirklich Freude bereiten und zu einer verständlichen Vertiefung beitragen.

Das Buch bietet, ausgehend von den zentralen Bezugstheorien der Philosophie- und Geistesgeschichte, die Entwicklung der unterschiedlichen Theorien der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften (z.B. Soziale Arbeit, Organisation und Management) sowie Hinweise auf konkrete Anwendungen in unterschiedlichen Arbeitsfeldern.

Durch diese Vielfalt der Themen und der Zugänge werden auch die Varianten des Konstruktivismus mit den jeweiligen Begründungen aufgezeigt und Schlüssel zu unterschiedlichen Branchen und Bereichen (z.B. Pädagogik, Medienarbeit, Soziale Arbeit) angeboten. Die kompakten Artikel lassen ein stückweises Erschließen nach Interessen und Neigungen zu. Es werden also mehrere Schlüssel angeboten, die unabhängig von einander kombiniert und ausprobiert werden können.

Im ersten Abschnitt „Vorläufer und Bezugstheorien“ werden sieben Werke – bekanntere wie beispielsweise jene von Immanuel Kant, aber auch unbekannte wie das von Ludwik Fleck mit dem Titel „Evolution des Erkennens. Rainer Egloff über Luwik Flecks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ – vorgestellt. Der 1896 in Lemberg (Polen) geboren Fleck war in der Zwischenkriegszeit und im zweiten Weltkrieg als Mediziner tätig und forschte erfolgreich im Bereich Bakteriologie. Das Labor war sozusagen sein Arbeitplatz. Bemerkenswert ist jedoch, dass er sich neben seinen Forschungen auch über die Entstehen von wissenschaftlichen Tatsachen auseinandersetzte. Dabei hat er die Begriffe des Denkstils und des Denkkollektivs geprägt, die er beschreibt als „… kollektive Erfahrungen …“ (mentale, mentalitätsmäßige und sozialer Institutionaliserung und ein „… gerichtetes Wahrnehmen mit gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen …“ (Fleck, Ludwik)

Der zweite Teil bietet siebzehn Beiträge unter der Rubrik „Grundlagen und Konzepte“. Behandelt werden Klassiker und Standardwerke wie Paul Watzlawicks „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ (Fritz B. Simon) oder Maturanas und Varelas „Der Baum der Erkenntnis“ (Karl H. Müller) bis hin zu Niklas Luhmanns „Erkenntnis als Konstruktion“ (Christoph Reinfandt).

Im abschließenden dritten Abschnitt wird Anwendung und Nutzbarmachung konstruktivistischer Ansätze in unterschiedlichen Feldern diskutiert und sehr praktisch aufgezeigt. Dadurch wird es möglich, Einblicke in auch fremde Branchen zu erhalten.

Heiko Kleve etwa hat sich mit Konstruktivismus in der Sozialen Arbeit auseinandergesetzt und in seinem Beitrag mit dem Titel „Vom Erweitern der Möglichkeiten“ folgende berufspolitische Identitätsperspektive entwickelt: „Identität könnte grundsätzlich als ein Konstrukt verstanden werden, das – zumindest in der Sozialen Arbeit – von Kontext zu Kontext immer wieder neu geklärt und erschaffen werden müsse. Was Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter demnach lernen müssten, wäre nicht die Fixierung einer festen und dauerhaften Selbstbeschreibung, sondern das flexible Arrangieren von situativ und kontextuell abhängigen Identitätskonstrukten.“ (Kleve, Heiko)

Gerade in der Berufsdiskussion von Sozialarbeiter/-innen ist dieser Beitrag ein  erfrischender Zugang zu einer professionellen Multi-Identität, die zu einer Entkrampfung beiträgt und Sozialarbeit als eine Profession positioniert, die immer wieder neu mit der passenden Identität interveniert, um an Themen/Zielen/Veränderungen von Gesellschaft zu arbeiten.

Rudolf Wimmer hat sich mit seinem Artikel, der systemisch-konstruktivistische Organisationsberatung gewidmet, die er als dritte Form neben der Fach- und Prozessberatung positioniert. Das dabei angewandte systemtheoretische Organisationsverständnis der Berater/-innen arbeitet mit den Sinndimensionen (sachlich, zeitlich und sozial), um Interventionen im Rahmen des Beratungsprozesses zu setzten die mithelfen die Führungsfähigkeit zu stärken/stabilisieren. In einer Zeit von ungeheurer Dynamik und vielfältigen Kommunikationsmitteln sowie Netzwerken eine wirkliche Herausforderung. Führung also „… ein Moment in einem sich selbst organisierenden, hochkomplexen Sozialsystem …? (Wimmer, Rudolf)

Diese unterschiedlichen Fundierungen und auch Einsatzfelder des Konstruktivismus zeigen jedoch eine gemeinsame tragfähige Basis. Es geht um Umorientierungen – das Verstehen, dass Konstruktionsprozesse die Wirklichkeiten erzeugen und hervorbringen. Um solche Konstruktionsprozesse erfahrbar zu machen sind beispielsweise Wie-Fragen eine sehr hilfreiche Form. Die Orientierung, dass der/die Beobachter/-in auch konstruiert trägt dazu bei, dies als Ressourcen zu nutzen. Er/Sie kann also Unterscheidungen und Bezeichnungen einbringen. Der Abschied von absoluten Wahrheitsvorstellungen – es geht also um Hinweise, nicht um Beweise – schafft kreativ neue „Wirklichkeiten“. So ist auch der Konstruktivismus ist nur eine Konstruktion von Wirklichkeit!

Dem konstruktivistischen Denken steht also die Lockerheit gut. Das führt auch dazu, dass Tendenzen zu „Schulenbindung“ (auch wenn der Konstruktivismus eine Meta-Theorie bzw. eine Epistemologie darstellt) immer wieder irritiert werden und Offenheit bleibt – so wie das Buch der Schlüsselwerke des Konstruktivismus eine sehr offen Sammlung an Zugängen und Werken sowie Praxen darstellt.

Dieses Buch ist m.E. allen Beraterinnen/Beratern und Interessierten zu empfehlen, die bereits über Grundlagenwissen zu konstruktivistischem Denken verfügen und neue Perspektiven für sich eröffnen möchten.

Aber Achtung: Das Ergebnis dieses Artikels ist auch nur eine Eigenkonstruktion – es könnte bei Ihnen auch ganz anders ausfallen …

Pörksen, Bernhard (Hrsg.) (2011):  Schlüsselwerke des Konstruktivismus.
Artikel erschienen in: BASYS. Berichte des Arbeitskreises für Systemische Sozialarbeit, Beratung und Supervision. http://www.asys.ac.at